
Via Claudia Augusta extended
Die Idee: Mehr als nur eine Römerstraße
Auf dem Saaleradweg trafen wir 2019 Claudia, eine Italienerin, die uns von ihrem Weg über die Alpen auf der Via Claudia Augusta erzählte. Die Idee einer Transalp blieb hängen. Doch einfach nur eine Route abfahren? Das war uns zu wenig. Der Plan, der sich formte, war ambitionierter: eine Komposition aus der klassischen Alpenüberquerung, einem Abstecher in die hochalpine Wildnis des Val Mora und der Erkundung eines echten Geheimtipps — der BI-3v Ciclovia Francigena (Variante del Moncenisio). Während die meisten Radler durch die sanften Hügel der Toskana rollen, führt diese Route durch das wilde Herz des ligurischen Apennins und ist ein authentisches Abenteuer abseits der Touristenströme. Das Rückfahrtticket war ab Bologna gebucht. Dies ist die Geschichte einer Reise, bei der aus einem Plan Wirklichkeit wurde.
Prolog: Anreise nach Augsburg
Donnerstag, 18. Mai 2023
Jede große Reise beginnt mit einem ersten Schritt aus der Haustür. Unsere begann in Laubegast mit dem Weg zum Hauptbahnhof. Nach einer entspannten Zugfahrt und einer Nacht im Hotel standen wir am nächsten Morgen am Startpunkt in Augsburg. Die Aufregung war riesig — über 20 Tage und mehr als tausend Kilometer lagen vor uns.
Etappe 1: Von Augsburg nach Lechbruck am See
Fakten-Box:
- Datum: 19. Mai 2023
- Strecke: Augsburg → Landsberg am Lech → Hohenfurch → Lechbruck am See
- Distanz: ca. 104 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 550 m
Nach einer ausgeruhten Nacht im Hotel im Antonsviertel schwangen wir uns endlich auf die Räder! Der Einstieg in unsere Tour war schon mal sehr schön. Wir rollten erst mal runter zum Fluss, am Zoo und am Botanischen Garten vorbei und dann direkt in den herrlichen Augsburger Stadtwald. Das war schon das erste kleine Highlight des Tages — eine wirklich wunderschöne Strecke, um in den Flow zu kommen.
Danach ging es immer weiter entlang des Lechs, mal auf der rechten, mal auf der linken Uferseite. Unsere erste richtige Pause machten wir in Landsberg am Lech. Ein absolutes Muss war natürlich der Fotostopp am imposanten Bayertor, bevor wir uns unten am Fluss das Karolinenwehr anschauten. Nach Landsberg folgte dann ein ziemlich langes, gerades Stück entlang der Landstraße. Ein okayer Radweg, aber vom Lechtal selbst sieht man da leider nicht so viel. Umso schöner war unser kleines Picknick direkt am Wasser an der Lech-Staustufe 11.
Das unerwartete Highlight des Tages wartete aber in Hohenfurch auf uns. Wir fuhren ahnungslos den Radweg entlang und standen plötzlich vor einem Garten, der bis in den letzten Winkel mit einer detailverliebten Modelleisenbahn-Landschaft zugebaut war. Was für ein Anblick! Und die Begegnung wurde noch herzlicher, als sich herausstellte, dass der Betreiber dieser privaten Gartenbahn ursprünglich aus Sachsen stammt. Er hat uns mit leuchtenden Augen seine Anlage gezeigt, in der so viele liebevolle Details steckten. Eine fantastische Rast.
Nach einem kurzen Kaffeestopp in Schongau stand uns der härteste Teil bevor: der Endspurt zum Campingplatz. Warum wir am ersten Tag gleich über 100 Kilometer abgerissen haben? Ganz einfach: Zwischen Augsburg und Lechbruck am See gibt es keinen einzigen Zeltplatz. Da wir nach der Hotelnacht endlich campen wollten, hieß es: durchbeißen!
Das ist schon ein bisschen hart für den ersten Tag, aber es hat sich absolut gelohnt. Der Via Claudia Camping direkt am See ist wirklich wunderschön. Ein herrlicher Ort, um die erste Nacht im Zelt zu verbringen und auf eine grandiose Tour anzustoßen.
Etappe 2: Von Lechbruck am See nach Biberwier
Fakten-Box:
- Datum: 20. Mai 2023
- Strecke: Lechbruck am See → Füssen → Reutte in Tirol → Biberwier
- Distanz: ca. 43 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 480 m
Was für ein Morgen! Als wir aus dem Zelt krabbelten, hatte sich das Wetter aufgeklärt, und wir konnten im Morgendunst zum ersten Mal die Alpenkette am Horizont sehen. Ein magischer Moment! Nach einem schnellen Start rauschten wir durch Lechbruck am See und machten eine kleine Rast an der berühmten Wegsäule der Via Claudia. Von dort oben war der Blick auf die Berge, die nun immer näher rückten, einfach sensationell. Das war sie, unsere erste richtige Begegnung mit den Alpen, und es war schon sehr beeindruckend.
Danach stoppten wir zuerst in Füssen, dann am beeindruckenden Lechfall und überquerten später die Grenze nach Österreich. Und waren plötzlich mittendrin in den Alpen! Nachdem wir Mittwald erreicht hatten schlugen wir unser Zelt auf dem Campingplatz in Biberwier auf, mit einem grandiosen Blick auf das Zugspitzmassiv.
Etappe 3: Von Biberwier nach Prutz
Fakten-Box:
- Datum: 21. Mai 2023
- Strecke: Biberwier → Fernpass → Imst → Prutz
- Distanz: ca. 62 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 560 m
Nach einem stärkenden Frühstück mit Porridge und Kaffee direkt vor dem Zelt stand er also an: unser erster Pass! Frisch gestärkt hieß es nun zum ersten Mal »the only way is up, baby«! Nach einer kurzen Fotopause am idyllischen Weißensee bogen wir auf die alte Römerstraße ab. Der Radweg der Via Claudia Augusta (R8) verläuft hier nämlich abseits der lauten Fernpassstraße und schlängelt sich auf einer Schotterpiste durch einen Wald. Hier merkten wir zum ersten Mal: Das ist kein Asphalt, das fährt sich anstrengender, manchmal drehen die Räder durch, aber dafür war es herrlich ruhig und einsam. Kurz vor der Passhöhe fanden wir eine wunderschöne Panoramastelle mit einem fantastischen Blick zurück auf die Zugspitze — wir konnten sogar das kleine Restaurant auf dem Gipfel erkennen!
Oben angekommen, holten wir uns nur schnell einen Kaffee im wuseligen Restaurant am Hotel Fernpasshöhe. Die Welt der Autos und Motorräder war nicht ganz so unsere, also sind wir schnell wieder weg, vorbei an der kleinen Kapelle zu den 14 Nothelfern und rein in die Abfahrt. Das war das erste richtig schön technische Stück der Tour! Man konnte nicht einfach nur rollen lassen, sondern musste konzentriert fahren. Wir waren aber sowieso langsam unterwegs, weil die Landschaft einfach so spektakulär war.
Kurz nachdem der Radweg am Gurgelbach nach Süden abzweigt, hatten wir eine dieser Begegnungen, die eine Reise prägen. Wir trafen zwei ältere Herren, die mit ihren Rädern aus dem tiefsten Süden kamen — sie hatten Sizilien umrundet und waren nun fast am Ende ihrer langen Reise nach Deutschland. Als sie hörten wohin wir wollten, gaben sie uns einen Gedanken mit auf den Weg: “Das ist wunderschön, aber ihr müsst irgendwann unbedingt auch südlich von Rom fahren. Das ist ein völlig anderes Italien, das man gesehen haben muss.” Dieser Gedanke sitzt seitdem fest — der geneigter Leser wird irgendwann lesen, was daraus geworden ist ;)
Nach dieser herzlichen Begegnung ging es immer weiter bergab, vorbei am Fernsteinsee, bis wir schließlich unten im Inntal bei Imst ankamen. Und was gibt es Besseres nach einem Pass? Nichts! Wir sind direkt runter zum Fluss, haben uns auf den Steinstrand gesetzt und unsere Waden ins eiskalte Wasser des Inns gehalten. Dazu ein bisschen was aus unserem Proviant — eine absolut herrliche Rast. Frisch gestärkt und abgekühlt rollten wir die letzten Kilometer entspannt bis zum Campingplatz in Prutz. Unser erster Pass war schon wieder Geschichte.
Etappe 4: Von Prutz zum Reschenpass
Fakten-Box:
- Datum: 22. Mai 2023
- Strecke: Prutz → Altfinstermünz → Norbertshöhe → St. Valentin a.d. Haide
- Distanz: ca. 48 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 1.150 m
Was für ein Glück wir auf dieser Reise mit dem Wetter hatten! Auch dieser Tag startete bei absolutem Kaiserwetter — blauer Himmel, ein paar Schönwetterwolken, einfach perfekt. Wir folgten dem Inn weiter durch das immer enger werdende Tal, an Pfunds vorbei, bis wir Altfinstermünz erreichten. Diese Anlage ist mehr als nur eine alte Zollstation; sie ist eine komplette mittelalterliche Gerichtsstätte und Festung, die das Inntal an seiner engsten Stelle strategisch abriegelte — ein erhaltenes Stück Geschichte mit Wehrturm und Kapelle. Direkt danach wurde es ernst: Ein echt brutales Wald- und Wiesenstück schraubte sich unerbittlich hoch auf die Via Engadina.
Oben angekommen, waren wir plötzlich in der Schweiz — und der Unterschied war frappierend. Eben noch auf anstrengenden Schotterwegen, rollten wir nun auf Asphalt, der wie geleckt war. Wir rauschten durch eine kleine Galerie und das enge Tal hinunter nach Martina. Eine kurze Rast, denn jetzt war klar: Der Anstieg zum Reschenpass steht bevor.
Die Auffahrt von Martina hoch zur Norbertshöhe war dann die erste richtig positive Überraschung des Tages. Es gab fast keinen Verkehr, nur zwei andere Reiseradler waren mit uns unterwegs. Und genau hier, in diesen Kehren, passierte etwas Besonderes: Ich verlor meine Unsicherheit vor den Bergen, fand meinen Rhythmus und pedalierte einfach stetig nach oben. Es war der Moment, in dem die Angst dem Genuss wich. Tabea hatte mit ihrem Gewichtsvorteil zwar immer etwas Vorsprung, nutzte ihn aber, um am Wegesrand Blümchen zu pflücken oder Fotos zu schießen. An Kehre 1 machten wir dann ein ausgiebiges Fotoshooting — wir dachten, wir wären schon fast oben und müssten diesen Moment unbedingt festhalten. 8-)
Nach einem kurzen Stopp am Alpengasthof Norbertshöhe fuhren wir über Nauders auf die Hochebene des Reschenpasses. Dort blies uns ein ordentlicher Gegenwind ins Gesicht, und es war doch noch ein ganzes Stück. Die ganze Zeit hielten wir Ausschau nach einem Passschild, aber da war nichts. Irgendwann hielten wir an der gefühlt höchsten Stelle, zusammen mit anderen Radfahrern, die ebenfalls suchend umherblickten. Wo ist denn nun der Pass? In der Gruppe entschieden wir dann kurzerhand: “Hier ist es jetzt! Hier ist der Pass!” Wir schossen gegenseitig Beweisfotos — ein spontaner Moment der Radler-Solidarität.
Und dann sahen wir den Reschensee — und er war leer! Später erfuhren wir, dass wir Zeugen seltener Wartungsarbeiten waren. Statt des berühmten Postkartenmotivs mit dem Kirchturm im Wasser sahen wir riesige Laster, die im Seegrund Erde bewegten. Ein staubiger und lauter, aber eben auch außergewöhnlicher Anblick. Wir entschieden uns bewusst für die landschaftlich reizvollere Strecke am Westufer und wurden belohnt. Der Radweg dort ist leichtwellig, führt immer wieder hoch und runter und bietet herrliche Ausblicke. An einer “Area Sosta” machten wir ein schönes Picknick, bevor wir über die Staumauer rollten.
Der Campingplatz zum See in St. Valentin erwies sich als absolute Top-Wahl. Wir bekamen einen Platz in der ersten Reihe auf der Zeltwiese und hatten einen fantastischen Blick nach Süden auf den Ortler und sein Massiv. Den Abend ließen wir in der Pizzeria Lampo in St. Valentin ausklingen, umgeben von den Bauarbeitern vom See — wieder ein sehr schönes, authentisches Abendessen, bevor wir zufrieden ins Zelt krochen.
Etappe 5: Vom Reschenpass ins Val Mora
Fakten-Box:
- Datum: 23. Mai 2023
- Strecke: St. Valentin → Laatsch → Val Müstair → Döss Radond → Alp Mora
- Distanz: ca. 41 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 1.280 m
An diesem Tag stand eine bewusste Entscheidung an: Wir verließen die Via Claudia Augusta. Bei der Tourenplanung hatte ich gelesen, dass die Route ab Meran durch ein enges, landwirtschaftlich geprägtes Tal führt, das man sich mit Autobahn und Bahn teilt. Die Vorstellung, stundenlang durch Apfelplantagen zu fahren, reizte mich wenig. Bei der Suche nach Alternativen sah ich die ersten Bilder vom Val Mora und dachte nur: Wow! Wenn wir es schaffen könnten, dort oben eine Nacht allein auf einer Wiese zu verbringen, wäre das der absolute Höhepunkt.
Der Tag begann mit einer sensationellen Abfahrt vom Haidersee hinunter nach Burgeis. In Burgeis erwischte uns der erste Schauer und wir holten die Regenklamotten raus. In Laatsch füllten wir dann in einem urigen kleinen Laden, der tatsächlich “Dorfladen” hieß, unsere Vorräte auf — Käse, Wurst, Obst und Gemüse für die Nacht abseits der Zivilisation.
Von dort bogen wir scharf nach Westen ins Val Müstair ab und folgten dem Radweg Route 27 (Val Müstair–Vinschgau). Der Anstieg war sofort spürbar, aber die Landschaft entschädigte für alles. Es war grandios, denn dank des Frühlings blühten die Wiesen rechts und links des Weges in voller Pracht. Bei Puntweil überquerten wir auf einer putzigen kleinen Holzbrücke die grüne Grenze zur Schweiz und erreichten Müstair. Das berühmte Benediktinerinnenkloster St. Johann schauten wir uns von außen an — für einen Museumsbesuch mit vollgepackten Rädern fühlten wir uns noch nicht bereit. Stattdessen gab es einen sehr teuren Kaffee im Restaurant La Courte. Wenn schon Schweiz, dann richtig! 8-)
In Sta. Maria, dem Ort, an dem die Straße zum Umbrailpass abzweigt, füllten wir ein letztes Mal unsere Wasservorräte auf. Dann verließen wir den Asphalt und bogen auf die Forststraße ab, die sich unerbittlich zum Döss Radond hochschlängelt. Man konnte von unten schon sehen: Das wird lang und steil. Aber am Vortag hatte ich ja meinen Frieden mit den Bergen gemacht und war zuversichtlich, dass wir es schon schaffen würden. Mitten im Anstieg erwischte uns ein heftiger Regenguss, und wir fanden in einer kleinen Forsthütte einen wildromantischen Unterschlupf. Danach wurde der Schotterweg richtig steil. Wir machten Pausen, schoben auch mal ein Stück, aber der Gedanke ans Umkehren kam uns nicht — wir hatten schon zu viel geschafft. Langsam wurde es merklich kühler, und als wir zurück ins Tal blickten, sahen wir über der Regenschauer einen perfekten Regenbogen. Ein magischer Moment.
Und dann waren wir plötzlich oben am Döss Radond und konnten unsere Räder in den Restschnee stellen! Völlig durchgeschwitzt in kurzen Hosen im Schnee zu stehen, war ein bizarrer und total cooler Moment. Wir mussten uns aber schnell umziehen, denn es wurde eiskalt und der nächste Regen setzte ein. Und genau in diesem Moment kam, wie es kommen musste, ein Ranger in seinem Geländewagen vorbei. Er fragte, was wir vorhätten, wies uns den Weg und fuhr weiter. Er hat den Braten aber wohl gerochen, denn als wir wenig später den Abzweig zur Alp Mora nahmen, um einen Platz für unser Nachtlager zu suchen, stand er schon da und erwartete uns.
Es folgte ein sehr freundliches Gespräch. Er wollte an diesem Abend eigentlich Hirsche zählen. Ich erklärte ihm unseren Wunsch, nur für diese eine Nacht hier oben in der Natur zu bleiben. Und von Naturfreund zu Naturfreund zeigte er ein Herz und sagte, er würde die Wildbeobachtung verschieben. Es war eine unglaublich großzügige und vertrauensvolle Geste, eine Ausnahme für ein Notbiwak zu machen, die wir ihm hoch anrechnen.
Wir schlugen unser Zelt an der Alp Mora auf, kochten unser Abendessen im offenen Schuppen und genossen die absolute Stille. Kein Handyempfang, keine Ablenkung. Beim Zähneputzen sahen wird dann tatsächlich ein Rudel Hirsche auf der Wiese ziehen. Völlig zufrieden und rechtschaffend müde nach der bisher härtesten Etappe unserer Reise schliefen wir in diesem friedlichen Hochtal ein.
Etappe 6: Vom Val Mora nach Bormio
Fakten-Box:
- Datum: 24. Mai 2023
- Strecke: Alp Mora → Lago di San Giacomo → Torri di Fraele → Bormio
- Distanz: ca. 27 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 120 m (aber unzählige gefühlte Höhenmeter beim Tragen!)
Dieser Morgen im Val Mora war tatsächlich so magisch, wie ich ihn mir erträumt hatte. Absolute, vollkommene Ruhe. Die Sonne ging im Osten auf und tauchte das weite Tal in ein unwirkliches Licht. Wir sind sogar noch ein Stück im Tal zurückgefahren, haben die Räder abgestellt und sind jeder für sich losgezogen — Tabea, um die Blumen zu bestaunen, ich auf der Suche nach Murmeltieren, die ich pfeifen hörte und aus der Ferne auch sah. Es war ein absoluter Höhepunkt der Reise, dieser friedliche, perfekte Morgen.
Aber der Ranger hatte es am Vorabend prophezeit: “Morgen wird es regnen.” Und er behielt recht. Gegen Vormittag zog es zu und ein leichter Nieselregen setzte ein — das unmissverständliche Zeichen zum Aufbruch. Ich hatte mir zuvor den Singletrail als südlichen Ausgang aus dem Tal ausgesucht, eine ausgewiesene Mountainbike-Strecke. Ich wollte wissen, wo die Grenzen für ein voll bepacktes Trekkingrad wirklich liegen. Und ich kann sagen: Ich habe sie gefunden.
Der Weg war nicht nur schmal und durch den Regen rutschig. Da es noch früh im Jahr war, war er auch noch nicht von den Murenabgängen des Tauwetters befreit. Zweimal mussten wir alles abpacken, das Gepäck auf die andere Seite eines Geröllfeldes tragen und die Räder hinterherhieven. Das war zeitaufreibend, aber auch ein richtiges, pures Abenteuer. Der Regen wurde immer stärker, und so habe ich den Passo di Val Mora, den Grenzübergang nach Italien, im Eifer des Gefechts glatt verpasst. Aus dem Augenwinkel sah ich noch eine Bank und zwei Grenzsteine, aber es war nass, es war kalt, wir wollten nur noch weiter.
Endlich erreichten wir den Lago di San Giacomo, wo es dann aus Kübeln schüttete. Wir brauchten dringend einen trockenen Ort. Und dann sahen wir es: das Rifugio di San Giacomo. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf! Wir fragten, ob wir uns unterstellen könnten, und wurden mit einer Herzlichkeit empfangen, die uns fast umgehauen hat. Der Wirt hatte gerade erst aufgesperrt, legte extra für uns noch ein paar Scheite in den Ofen und versorgte uns mit heißem Kaffee und einer Kleinigkeit zu essen. Wir konnten uns aufwärmen, trocknen und haben uns wunderbar mit ihm unterhalten — eine absolute Empfehlung für jeden, der nass und durchgefroren aus den Bergen kommt.
Da der Regen nicht nachließ, entschieden wir, einfach weiterzufahren. Vorbei am Lago di Cancano erreichten wir schließlich die Torri di Fraele. Was für ein Moment, wenn man oben an den alten Wachtürmen steht, hinunter ins Tal nach Bormio schaut und die unzähligen Serpentinen vor sich sieht! Wir sahen schon die ersten Rennradfahrer, die sich trotz des Wetters nach oben kämpften, und wussten: Vor uns liegt eine sensationelle Abfahrt!
Viel zu schnell waren wir unten und hatten die ganzen gewonnenen Höhenmeter wieder vernichtet. Eigentlich hatte ich einen Campingplatz bei Bormio rausgesucht, aber nach diesem Vormittag im Dauerregen war uns nicht danach. In einem kleinen Radler-Café kamen wir mit der Betreiberin ins Gespräch, die uns kurzerhand ein Hotel in der Nähe empfahl. Und so zogen wir den Hotel-Joker: Im Hotel San Vitale war noch ein Zimmer frei! Wir durften unser nasses Zelt und die klammen Schlafsäcke im Skikeller zum Trocknen aufhängen und genossen nach einer heißen Dusche ein richtiges Bett. Nach einer kleinen Erkundungstour durch Bormio fielen wir glücklich und zufrieden in die Kissen.
Etappe 7: Von Bormio nach Colico
Fakten-Box:
- Datum: 25. Mai 2023
- Strecke: Bormio → Tirano → Colico
- Distanz: ca. 110 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 180 m
Als wir an diesem Morgen aus dem Hotelfenster schauten, trauten wir unseren Augen kaum: strahlend blauer Himmel, als hätte es das Unwetter vom Vortag nie gegeben. Nach einem schönen kontinentalen Frühstück brachen wir in Bormio auf und ließen uns ins Tal rollen. Unser Plan ging auf: Der Sentiero Valtellina entpuppte sich als Sensation! Der Radweg war zu diesem Zeitpunkt noch ganz frisch ausgebaut und versprach eine endlos lange Abfahrt.
In Tirano gönnten wir uns in einer kleinen Bar im Parco Ai Caduti ein zweites Frühstück. Bei einem perfekten italienischen Espresso und Cappuccino in der Sonne zogen wir endlich die langen Sachen aus und wechselten in kurze Radklamotten. Von da an war es pures Genussradeln. Entlang der Adda, mal links, mal rechts des Flusses, bekommt man von der Straße kaum etwas mit. Diese Etappe bestätigte uns endgültig, dass es die absolut richtige Entscheidung war, diese Alternative zur originalen Via Claudia Augusta zu wählen. Gegen Ende verengt sich das Tal bei Morbegno noch einmal eindrucksvoll, bevor es sich zum See hin öffnet.
Unser klares Tagesziel war der Comer See! Wir fuhren einen kleinen Umweg bis zur Mündung der Adda, an eine Stelle namens “l’Isola degli Incapaci”, und schossen das obligatorische Zielfoto: die Räder vor dem See, dahinter die Berge. Ein grandioser Moment, in dem uns klar wurde: Wir haben die Alpen überquert. Mit unseren Rädern. Geil!
Auf dem Weg zum Campingplatz hielten wir noch kurz an der Strandpromenade von Colico. Das war ein lustiger Culture Clash: Hier die schicken, gut gekleideten Touristen aus der Schweiz, die ihren Nachmittagskaffee genossen – und da schneiten wir rein, voll bepackt, mit verdreckten Rädern, direkt aus dem Gebirge. Ein Bild für die Götter und ein schöner Vorgeschmack auf das, was uns in größeren Städten noch öfter begegnen sollte.
Der Campingplatz, Area Camper Lido, war die nächste positive Überraschung. Hauptsächlich von Dauercampern belegt, bekamen wir auf der kleinen Zeltwiese einen Platz in der ersten Reihe, direkt am Zaun, mit freiem Blick auf den Comer See. Wir aßen im Zeltplatz-Restaurant, machten danach noch ein kleines Fotoshooting im herrlichen Abendlicht am Ufer und ließen den Tag ausklingen. Mit diesem fantastischen Gefühl, die Alpen auf den eigenen Rädern überquert zu haben, endete dieser wunderbare Abend.
Etappe 8: Vom Comer See nach Oggiono
Fakten-Box:
- Datum: 26. Mai 2023
- Strecke: Colico → Lecco → Oggiono
- Distanz: ca. 40 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 250 m
Bei herrlichem Wetter bogen wir auf den Radweg, der sich am Ostufer des Comer Sees entlangschlängelt. Palmen säumten den Weg, rechts glitzerte der See, links zogen traumhafte Villen vorbei. An diesem Tag nahmen wir bewusst das Tempo raus, hielten immer wieder an und sogen einfach nur diese herrliche Atmosphäre auf.
Kurz hinter Riva Grande standen wir dann vor einer Straßensperrung — ein Stück einer Galerie war eingestürzt. Hier lernten wir zum ersten Mal, dass Verkehrsschilder in Italien manchmal eher den Charakter eines Vorschlags haben. Für Autos war absolut kein Durchkommen, aber mit den Rädern konnten wir an der Baustelle vorbeischieben. Ein kleines Abenteuer! Unsere Mittagsrast machten wir im Park von Mandello del Lario, direkt am Seeufer, mit Decke und Proviant. Einfach perfekt.
Frisch erholt erlebten wir kurz darauf eine der absurdesten Radwegführungen, die man sich vorstellen kann. Von der gemütlichen Landstraße wurden wir plötzlich direkt auf die Schnellstraße SS36 geleitet, die dort zweispurig aus einem Tunnel kommt! Die nächsten zweieinhalb Kilometer fuhren wir auf dem Standstreifen neben 70 km/h schnellem Verkehr. Das war schon ein bisschen creepy und sehr, sehr ungewohnt, auch wenn die italienischen Autofahrer erstaunlich rücksichtsvoll waren.
Am südlichen Ende des Comer Sees machten wir eine letzte kleine Rast, um die Flaschen aufzufüllen. Das Rauswuseln aus Lecco war dann nochmal eine navigatorische Herausforderung — schlecht ausgeschildert und ein Gewirr aus Unter- und Überquerungen. Aber auch das haben wir geschafft und fuhren weiter zum kleineren Lago di Annone. Dort legten wir eine Badepause ein, die so wunderbar war, dass wir spontan entschieden: Wir rasen heute nicht mehr weiter Richtung Mailand.
Ich hatte auf der Karte einen “Campeggio Quattro Stagioni” gefunden. Wir fuhren hin und standen vor einem verschlossenen Eisentor, das Gelände dahinter sah eher nach Kleingartenverein als nach Campingplatz. Doch dann kam eine Frau, wir verständigten uns mit Händen und Füßen, sie verstand was wir suchten und holte den Platzwart. Er musterte uns kurz, sagte “Ja, okay, kommt rein”, führte uns durch eine Siedlung aus Bungalows zu einem kleinen Spielplatz direkt am See und meinte: “Hier auf der Wiese könnt ihr euer Zelt aufschlagen.” Und weg war er.
Wir waren baff, bauten unser Zelt auf und sprangen nochmal in den See. Am Abend saßen wir im kleinen Restaurant des Platzes, bekamen Sandwiches und ein kühles Bier und wurden unglaublich herzlich und gastfreundlich behandelt. Es ist immer wieder überraschend, wie freundlich man als Reisender aufgenommen wird. Diese Nacht, auf einem Spielplatz in einer italienischen Gartensparte, war einfach wunderbar und unerwartet.
Etappe 9: Von Oggiono nach Mailand
Fakten-Box:
- Datum: 27. Mai 2023
- Strecke: Oggiono → Monza → Mailand
- Distanz: ca. 56 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 150 m
Nach dem Erwachen am Lago di Annone brachen wir gemütlich in Richtung Mailand auf. Der Plan war, den Tag entspannt anzugehen, aber ich hatte mir zwei Stopps rausgesucht, die man einfach mitnehmen muss, wenn man schon mal in der Gegend ist. Der erste: Monza! Schon als wir uns der Nordkante der Rennstrecke näherten, hörten wir das Dröhnen der Motoren. Es war Wochenende, und die Sportwagen-Enthusiasten drehten ihre Runden. Wir stellten uns an den Zaun und sahen den Boliden beim Rasen zu — ein lustiger Kontrast, wie wir da mit unseren voll bepackten Reiserädern zwischen den Motorsport-Fans standen. Das obligatorische Foto unserer Räder vor dem berühmten Eingangsschild durfte natürlich nicht fehlen.
Gleich neben der Rennstrecke liegt der riesige Park der Königlichen Villa von Monza. Wir machten eine Pause vor dem beeindruckenden Gebäude und staunten über die Weitläufigkeit der Anlage. Wahnsinn! Auf dem weiteren Weg in die Mailänder Vorstädte legten wir noch eine entspannte Rast im Park der Villa Ghirlanda ein, saßen einfach unter einem Baum und genossen die mediterrane Wärme.
Ich hatte die Route so geplant, dass wir standesgemäß durch das Nordtor, die Porta Sempione, in die Stadt einfahren. Und es war ein großartiger Moment, als wir plötzlich vor diesem riesigen Triumphbogen standen! Von dort rollten wir durch den Park, am Castello Sforzesco vorbei, und dann standen wir da: auf dem Domplatz, mitten im Getümmel, mit unseren Rädern vor dem Mailänder Dom. Ein unbeschreibliches Gefühl. Wir sind einfach mit dem Fahrrad über die Alpen bis nach Mailand gefahren! Nach einer Pause in der Bar Duomo war klar, dass wir diesen Tag gebührend ausklingen lassen mussten.
Ich erinnerte mich an das wunderschöne Kneipenviertel am Naviglio Grande. Wir fanden eine kleine Bar, bestellten den ersten Aperol Spritz des Urlaubs und schauten einfach nur dem bunten Treiben zu. Perfekt.
Die Suche nach dem Campingplatz gestaltete sich dann allerdings zu einem kleinen Abenteuer. Ein Kartenfehler führte uns erst ins absolute Nichts, wo definitiv kein Zeltplatz war. Aber es gab ja noch den großen Camping Milano nahe dem San-Siro-Stadion. Dort bekamen wir eine ganze Parzelle für unser kleines Zelt. Der Anblick war herrlich komisch: Rechts, links und vor uns riesige Luxus-Wohnmobile, voll ausgestattet mit allem Drum und Dran. Und wir mittendrin in unserem Drei-Quadratmeter-Zelt, umgeben von diesen “Wolkenkratzern”. Wir grüßten freundlich von unten nach oben, aber es war klar: Das ist nicht unsere Welt. Während wir auf dem Platz aßen, hörten wir immer wieder Jubel aus dem nahen Stadion. Ein surrealer und lustiger Abschluss für einen unvergesslichen Tag.
Etappe 10: Von Mailand nach Tortona
Fakten-Box:
- Datum: 28. Mai 2023
- Strecke: Mailand → Pavia → Tortona
- Distanz: ca. 88 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 180 m
Heute stand eine reine Überführungsetappe an, um uns unserem nächsten großen Ziel zu nähern. An diesem wieder wunderbar sonnigen Tag machten wir eine absolut traumhafte Radweg-Entdeckung: Der Weg von Mailand nach Pavia führt über viele Kilometer schnurgerade am Naviglio Pavese entlang. Es war ein großartiges Fahrgefühl, einfach mal rollen zu lassen, ohne auf den motorisierten Verkehr achten zu müssen. Zwischen all den italienischen Rennradlern, die einem mit Gepäck immer freundlich und anerkennend zunicken, haben wir die 40 Kilometer nach Pavia einfach so weggeschnurrt.
In Pavia selbst gab es natürlich einen Pflicht-Stopp: über die berühmte Ponte Coperto und davor noch schnell ein Eis, das muss sein! Danach tauchten wir in die Po-Ebene ein. Unsere Mittagspause wollten wir aber nicht schon wieder in einer Stadt verbringen, also suchten wir uns eine kleine Wiese direkt am Ufer des Po, breiteten die Decke aus und genossen unseren Proviant.
Danach begann der härtere Teil des Tages. In der Po-Ebene zwischen den Pappelplantagen staute sich die Hitze auf gut 35°C. Hier dachten wir das erste Mal auf dieser Tour, wie froh wir sind, nicht im Hochsommer unterwegs zu sein! Der anschließende Abschnitt auf einer stark befahrenen Straße war dann nicht besonders angenehm, wir sind dort einfach nur ziemlich durchgeheizt. Doch die Strapazen wurden belohnt: In Codevilla entdeckten wir an einer Raststätte zum ersten Mal einen dieser italienischen Wasserautomaten, wo man sich für wenige Cents Sprudelwasser abfüllen kann! Der ganze Platz war zudem mit bunt eingestrickten Fahrrädern dekoriert, und am Horizont sahen wir zum ersten Mal die Silhouette des Apennin. Eine richtig schöne Pause!
Der anschließende Greenway Voghera-Varzi fuhr sich wieder wunderbar. In Rosano machten wir einen kurzen Abstecher zum auf der Karte verzeichneten Palazzo Spinola. Auch wenn das Gebäude heute leider stark verfallen ist, ließ sich die einstige Pracht noch erahnen. Wie sich herausstellte, war es die Sommerresidenz der mächtigen genuesischen Adelsfamilie Spinola — ein einst prächtiger Ort. Nach einer fehlgeschlagenen Suche nach einem Mini-Campingplatz in Viguzzolo (der Wasserhahn war abmontiert) hielten wir an einem Kirschenstand, wo uns ein freundlicher Mann eine Menge frischer Kirschen verkaufte.
So kamen wir am späten Nachmittag in Tortona an — mitten in einem Stadtfest! Mit unserer Tüte Kirschen setzten wir uns in die Bar Gelateria Asaro, genossen das bunte Treiben und beschlossen: Kein Hotel heute. Da findet sich schon was! Während wir so dasaßen, fand ich auf der Karte eine vielversprechende Stelle am Fluss Torrente Scrivia. Wir fuhren einfach runter zum Wasser, und tatsächlich: Es wurde immer einsamer, und wir fanden eine wunderschöne Stelle, wo wir im Fluss baden, unser Abendbrot kochen und schließlich das Zelt aufstellen konnten. Die zweite Nacht Wildcampen auf dieser Tour — wieder sehr romantisch, direkt am Wasser.
Etappe 11: Von Tortona nach Montoggio
Fakten-Box:
- Datum: 29. Mai 2023
- Strecke: Tortona → Libarna → Gavi → Montoggio
- Distanz: ca. 63 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 1.050 m
Nach einem wunderschönen Frühstück an unserem wilden Camp am Torrente Scrivia — Geschirrspülen natürlich umweltfreundlich im Fluss — brachen wir weiter nach Süden auf. Kurz hinter Serravalle Scrivia wartete die erste Überraschung: die "Area Archeologica di Libarna. Eingekesselt zwischen Autobahn, Bahnlinie und Industrieanlagen erwarteten wir nicht viel, aber der Abstecher hat sich absolut gelohnt! Die Ausgrabungsstätte ist toll aufbereitet und gibt einen fantastischen Einblick in eine komplette römische Stadt. Wir sind eine ganze Weile zwischen den alten Mauern umhergekrochen und haben diesen geschichtsträchtigen Ort auf uns wirken lassen.
Danach ging es auf der Via Serravalle das erste Mal richtig bergauf zu unserem nächsten Ziel, auf das ich mich schon gefreut hatte: Gavi. Natürlich kennt man den Wein, aber die Gegend selbst zu sehen, war nochmal etwas anderes. Wir kämpften uns den steilen Stich hoch zur Forte di Gavi. Die Burganlage selbst war leider geschlossen, aber der Spaziergang um die gewaltigen Mauern und der fantastische Blick von dort oben ins Tal waren die Mühe wert. Von dort sahen wir auch das markante Castello di Montaldeo in der Ferne. Unten im Ort Gavi gab es dann eine wohlverdiente Pause auf dem Marktplatz, und wir verstauten zwei Flaschen des lokalen Weins sicher in unseren Packtaschen.
Hier in Gavi begann nun auch, ganz unspektakulär und ohne ein einziges Schild, der nächste große Abschnitt unserer Reise. Wir stiegen ein in die BI-3v, die anspruchsvolle Moncenisio-Variante der Ciclovia Francigena. Dieser “Ramo Ligure” (Ligurischer Ast) sollte uns auf den Spuren alter Pilger durch das wilde Herz des Apennin führen. Der Einstieg auf der Via Voltaggio war grandios! Es ging durch eine malerische Landschaft bis nach Voltaggio, wo wir die beeindruckende Ponte dei Paganini bestaunten, eine mittelalterliche Brücke, die sich elegant über den Fluss Lemme spannt. Hier waren wir plötzlich mittendrin: Die Berge ragten rechts und links steil und grün auf. Toll!
Der folgende Anstieg zum Passo de Castagnola fühlte sich gar nicht wie ein richtiger Pass an, so schön war die Fahrt durch den herrlichen Wald. Ich hatte mich eigentlich schon darauf eingestellt, in dieser Gegend wieder einen Platz zum Wildcampen zu suchen, doch dann sahen wir am Straßenrand plötzlich ein kleines Schild: Campingplatz in Montoggio. Okay, das würde vieles vereinfachen! Wir folgten dem Weg den Hang hinauf und landeten auf dem wunderschönen Camping Castello dei Fieschi.
Der Platz war eher eine Art Laubenkolonie für Dauercamper, aber wir wurden unglaublich herzlich aufgenommen. Wir waren die einzigen Zeltgäste und hatten die gesamte Wiese für uns. An Tischen, die aus alten Bahnschwellen gebaut waren, kochten wir uns ein köstliches Abendessen, öffneten die erste Flasche Gavi und waren überglücklich über diesen Zufallsfund. Der Platz war in keiner Karte verzeichnet — ich habe ihn später direkt in OpenStreetMap eingetragen.
Etappe 12: Von Montoggio nach Lavagna
Fakten-Box:
- Datum: 30. Mai 2023
- Strecke: Montoggio → Passo la Colla → Cicagna → Lavagna
- Distanz: ca. 46 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 850 m
Die Auffahrt durch den wilden Apennin an diesem Morgen war einfach grandios. Auf dem gesamten Weg zum Passo la Colla begegnete uns ein einziges, dreirädriges Piaggio. Ansonsten waren wir völlig allein in dieser paradiesischen Natur. Eidechsen huschten über die warmen Steine, die Vögel zwitscherten, die Sonne schien — es war unglaublich schön und übertraf alle meine Erwartungen. Oben am Pass machten wir eine Pause und liefen das kurze Stück zum Gipfel des Monte La Colla vor, um einen noch weiteren Blick über diese unglaublich grüne, unberührte Hügellandschaft zu haben. Ein Abstecher, der sich absolut gelohnt hat.
Die Abfahrt war kein einfaches Hinunterrollen, sondern eine kurvenreiche Fahrt über viele kleine, süße Sträßchen, die sich durch die Landschaft schlängelten. Doch am Himmel hinter uns braute sich bereits ein Unwetter zusammen. Wir mussten einen Zwischenstopp einlegen und fanden in Cicagna Zuflucht in einem kleinen Café. Während es draußen schüttete, tranken wir zwei Espresso. Der Wirt war so erfreut über die seltene Gesellschaft, dass er uns zum Abschied drei Ansichtskarten des Ortes schenkte — wieder eine dieser total schönen, herzlichen Begegnungen. Direkt im Ort bewunderten wir noch die berühmte, alte Brücke Ponte di San Francesco, ein mittelalterliches Bauwerk, das sich elegant über den Fluss spannt.
Von dort stiegen wir in den Ciclovia dell’Ardesia ein, den “Schiefer-Radweg”, der uns hinunter zur Küste führen sollte. Der Weg war abenteuerlich: Kurz hinter San Colombano standen wir vor einer eingestürzten, vermüllten Brücke — kein Durchkommen. Also zurück auf die Hauptstraße. Bei Gazzo versuchten wir es erneut, stießen aber auf das gleiche Problem. Es wurde uns klar: Radwege in Italien sind nicht immer perfekt instand gehalten, aber die kleinen Umwege waren Teil des Erlebnisses auf diesem fantastischen Weg ins Tal.
Nach einem letzten Stück durch einen Bambushain wurde das Tal wieder weiter und dann, ganz plötzlich, standen wir da: am Meer! An der Statue von Christoph Kolumbus in Lavagna stiegen wir ab und starrten auf das glitzernde Mittelmeer. Wir waren unfassbar glücklich und stolz, es mit unseren Rädern von Augsburg bis hierher geschafft zu haben. Ein unbeschreibliches Gefühl, an diesem frühen Nachmittag in der Sonne zu stehen und zu wissen: Wir sind am Mittelmeer!
Den passenden Zeltplatz, das Camping La Pineta, hatte ich schon rausgesucht. Wir bekamen einen wunderschönen, terrassierten Platz auf der Zeltwiese. Den Abend feierten wir in einer kleinen, feinen Pizzeria in der Nähe — natürlich mit Fisch. Das erste Mal Sardellen in diesem Urlaub. Wunderbar.
Etappe 13: Ruhetag in Portofino
Fakten-Box:
- Datum: 31. Mai 2023
- Strecke: Lavagna → Portofino → Lavagna
- Distanz: ca. 49 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 800 m
Die Idee für diesen Ausflug kam uns ein paar Tage zuvor. Auf dem Passo de Castagnola, an dessen Passschild Radfahrer ein Bild der Legende Fausto Coppi geklebt hatten, kehrten wir in einem winzigen Restaurant ein. Eine alte Dame machte uns einen wunderbaren Kaffee, stellte uns trockene Kekse hin und fragte, wohin wir wollten. Als sie hörte, dass wir ans Meer unterwegs waren, legte sie uns ans Herz: “Fahrt nach Portofino!” Und so nutzten wir unseren ersten “Ruhetag” für diesen Ausflug.
Der GPX-Track nach diesem Tag hieß nicht umsonst “Höhenintervalle”. Die Fahrt von Lavagna nach Portofino ist alles andere als ein flaches Ausrollen an der Küste. Es geht ständig hoch und runter, aber die Ausblicke sind jede Kurbelumdrehung wert. Wir hielten zweimal an kleinen, versteckten Stränden an, um uns im Meer abzukühlen.
Portofino selbst ist schon eine Welt für sich — die Yachten der Superreichen, die teuren Boutiquen. Wir waren mittendrin und doch irgendwie außen vor. Aber wir wollten sowieso noch zum Leuchtturm. Da man dorthin nicht fahren kann, schoben wir unsere Räder einfach den schmalen Weg bis fast ganz nach oben. Das letzte Stück liefen wir und setzten uns in das kleine Café am Leuchtturm. Eine Stunde lang saßen wir nur da, schauten auf das Meer und ließen diesen schönen Ort auf uns wirken. Ein wunderbarer Ausflug.
Die Rückfahrt hatte dann noch eine schmerzhafte Überraschung parat: Beim Fotografieren einer Kaktusfeige zog sich Tabea fiese Stacheln in den Finger, was echt unangenehm war. So endete der Tag nicht ganz perfekt, auch wenn wir uns am Abend noch eine Portion Pasta am Zelt kochten.
Etappe 14: Von Lavagna nach Levanto
Fakten-Box:
- Datum: 01. Juni 2023
- Strecke: Lavagna → Sestri Levante → Passo del Bracco → Levanto
- Distanz: ca. 46 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 1.100 m
Den Track dieses Tages habe ich im Nachhinein “Fantastischer Radweg nach Levanto” genannt — und das war er auch. Wir rollten morgens auf einem herrlichen Küstenradweg nach Sestri Levante. Dort steuerten wir einen Punkt an, den ich auf der Karte entdeckt hatte: die Baia del Silenzio (Bucht der Stille). Und sie war tatsächlich so unglaublich schön und pittoresk, wie ich es mir erhofft hatte. In einer Ecke saß ein Maler und bannte die Szenerie auf ein kleines A5-Blatt. Ein perfekter Moment.
Danach hieß es: Abschied nehmen von der Küste und wieder den Berg hoch. Wie soll es anders sein? In Masso tankten wir an einem Brunnen unsere Wasservorräte auf. Das ist einer der großen Vorzüge Italiens: In fast jedem Dorf findet man eine öffentliche Wasserquelle — ein unglaublicher Luxus für Radreisende. Der Anstieg führte uns auf die alte Via Aurelia. Und auch das war eine wunderbare Entdeckung: Die Straße war praktisch leer! Während sich der Verkehr auf den Autobahnen und Hauptstraßen staut, gondelten wir hier oben völlig allein durch die Dörfer und Wälder.
Nach dem Passo del Bracco sahen wir in der Ferne schon wieder einen Regenhimmel aufziehen. Es folgte eine Abfahrt über übelste Serpentinen hinunter nach Framura. Plötzlich standen wir unten am Hafen und es ging nicht weiter. Überall nur Felsen und Meer. Wo war der Radweg? Wir suchten eine Viertelstunde, bis uns ein Einheimischer aufklärte: “Ihr müsst den Aufzug nehmen!” Und tatsächlich: Ein öffentlicher Fahrstuhl transportiert Fußgänger und Radfahrer eine Etage nach oben zum Niveau des Bahnhofs.
Dort beginnt die geniale Pista Ciclopedonale Maremonti, ein Radweg auf einer stillgelegten Bahntrasse. Es war ein unglaubliches Erlebnis! Man fährt kilometerlang durch alte, beleuchtete Tunnel, die immer wieder von Galerien durchbrochen werden, die einen spektakulären Blick auf das Meer freigeben. Wir rollten durch bis Bonassola, machten noch einen kleinen Badeabstecher und genossen diesen einzigartigen Weg in vollen Zügen.
Am späten Nachmittag erreichten wir Levanto und fuhren hoch zum erstbesten Campingplatz, dem Camping Acqua Dolce. Es war Wochenende, aber für zwei Radfahrer mit Zelt findet sich immer ein Platz. Wir bekamen eine schöne, windgeschützte Ecke auf der Zeltwiese und ließen den Abend bei einem leckeren Essen in der Stadt ausklingen.
Etappe 15: Bootsfahrt Cinque Terre
Fakten-Box:
- Datum: 02. Juni 2023
- Strecke: Bootsausflug von Levanto nach Porto Venere und zurück
- Distanz: 0 km (radfrei!)
- Höhenmeter bergauf: 0 m
Heute war ein echter, radfreier Ruhetag! Und wir nutzten ihn, um einen Punkt von unserer Wunschliste abzuhaken: die Cinque Terre. Wir hatten das Glück, dass die Fährverbindung für die Saison gerade erst wiedereröffnet hatte. Also kauften wir uns ein “Hop-on, Hop-off”-Tagesticket und stachen in See.
Unsere Seefahrt starteten wir, indem wir zunächst an allen fünf Dörfern vorbeifuhren und erst am südlichen Ende der Bucht in Porto Venere von Bord gingen. Wir bummelten durch die Gassen, machten eine schöne Mittagspause und genossen das Flair, bevor wir am frühen Nachmittag die Rückreise antraten.
Nun begann das eigentliche Dorf-Hopping. Wir hatten in jedem Ort etwa eine Stunde Zeit, was perfekt war, um sich treiben zu lassen. Wir stiegen aus in Riomaggiore, dann in Manarola. Vorbei am hoch auf den Klippen thronenden Corniglia ging es weiter nach Vernazza und schließlich nach Monterosso al Mare. In jedem Ort gönnten wir uns ein kleines Getränk, kletterten ein Stück den Hang hinauf, um die berühmten Postkarten-Ausblicke zu genießen, und sogen die Atmosphäre auf.
Es ist wirklich beeindruckend, wie die Menschen diese farbenfrohen Häuser in die steilen Hänge gebaut haben, die sich direkt aus dem Meer erheben. Gleichzeitig war es selbst so früh im Jahr schon unglaublich voll. Man kann nur erahnen, was es für die Einheimischen bedeuten muss, wenn sich im Hochsommer täglich Tausende von Touristen durch diese winzigen Gassen wälzen. Auch wir waren natürlich Teil dieses Stroms, aber wir sind trotzdem sehr froh, es gesehen zu haben.
Mit dem letzten Boot fuhren wir im goldenen Abendlicht zurück nach Levanto und ließen diesen eindrucksvollen Tag bei einem weiteren leckeren Abendessen ausklingen.
Etappe 16: Von Levanto nach Tellaro
Fakten-Box:
- Datum: 03. Juni 2023
- Strecke: Levanto → Colle di Gritta → La Spezia → Tellaro
- Distanz: ca. 42 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 980 m
Im Nachhinein bin ich schon ein bisschen stolz auf meine Routenplanung, denn dieser Tag war ein ganz besonderer: Tabeas Geburtstag! Und die Strecke, die vor uns lag, war das perfekte Geschenk. Von Levanto aus schraubt sich die Straße steil den Hang hinauf. Und irgendwo dort, auf dem Weg zum Colla di Gritta, passierte es: Wir knackten die 1000-Kilometer-Marke auf unserer Reise!
Das zweite Geschenk war die sensationelle Panoramastraße, auf der wir uns danach bewegten. Auf halber Höhe schlängelte sie sich am Hang entlang, durch wunderbar unberührte Natur. Rechts unter uns glitzerte das Meer mit den kleinen Küstenorten, während immer wieder Wolkenfetzen durchzogen, die uns für Momente einhüllten, bevor wieder die Sonne durchbrach. Wir waren unendlich froh, das mit dem Rad zu erleben. Wir konnten überall anhalten und diesen fantastischen Ausblick genießen, während die Camper sich eine der wenigen Haltebuchten suchen mussten. Nach einer schönen Mittagspause bei Il Borgo di Campi ging es schließlich in einer langen Abfahrt hinunter nach La Spezia.
Der Kontrast hätte kaum größer sein können: Von der himmlischen Ruhe der Panoramastraße tauchten wir ein in den Lärm und die Hektik einer Hafenstadt. Das hat uns nicht wirklich begeistert, aber wir hatten ja ein schönes Ziel vor Augen: einen Campingplatz in Lerici, den “Campeggio dei Poeti”. Dachten wir. Nach einem weiteren Anstieg standen wir vor einem verschlossenen Tor. Der Platz war dauerhaft geschlossen. Nicht so schön, vor allem, weil es schon später am Nachmittag war.
Also wieder Kartenstudium. Wir fanden einen anderen Platz ein Stück weiter, den Camping Gianna, und ergatterten dort den allerletzten freien Stellplatz — es war Wochenende und alles voll. Am Abend sind wir dann noch ins malerische Tellaro hinuntergeschlendert und haben auf dem Marktplatz einen wunderschönen mediterranen Abend verbracht. Der Geburtstag endete also ein bisschen anders als geplant, aber der Ausklang war einfach toll und hat sich absolut gelohnt.
Etappe 17: Von Tellaro nach Viareggio
Fakten-Box:
- Datum: 04. Juni 2023
- Strecke: Tellaro → Montemarcello → Luni → Viareggio
- Distanz: ca. 60 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 450 m
Der Sonntag begann entspannt. Wir fuhren den BI-3v voll aus und gingen an der Punta Bianca nochmal baden. Nach einer rasanten Abfahrt erreichten wir die alte römische Stadt Luni — einst der wichtigste Hafen für den weltberühmten Carrara-Marmor. Danach begann der lange Teil der Etappe auf dem EuroVelo 5 entlang der Versilia-Küste. Eine surreale Welt aus “Bagno an Bagno”, ein kilometerlanger Sandstrand, gesäumt von bunten Sonnenschirmen. Durch bekannte Badeorte wie Marina di Massa und Roma Imperiale ging es immer weiter nach Süden. Plötzlich zog ein heftiges Gewitter auf. Wir fanden Unterschlupf im Bagno Carol di Levante, konnten unsere Räder unterstellen und den Regenguss abwarten.
Danach wurde es richtig pompös, vor den Einfahrten der Strandbäder parkten die Luxussportwagen. Das war nicht ganz unsere Welt, aber der Anblick des Riesenrads mit der Martini-Werbung in Lido di Camaiore hatte etwas herrlich Italienisches, wie aus einem Reiseprospekt der 70er Jahre. Wir fuhren noch ein ganzes Stück weiter bis zu unserem Campingplatz Camping Viareggio. Dort verbrachten wir die Nacht — und was für eine! Es schüttete wie aus Eimern, eine richtig schöne, intensive Regennacht im Zelt.
Etappe 18: Von Viareggio nach Montecatini Terme
Fakten-Box:
- Datum: 05. Juni 2023
- Strecke: Viareggio → Pisa → Lucca → Montecatini Terme
- Distanz: ca. 71 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 200 m (plus eine fiese Rampe am Ende!)
Dieser Tag bedeutete Abschied vom Mittelmeer. Um das gebührend zu zelebrieren, wichen wir kurz von der Route ab, fuhren zur Marina di Torre del Lago, sprangen ein letztes Mal ins Wasser und sogen die herrliche Meeresluft ein. Der Weg von dort ins Landesinnere war allerdings mühsam. Meine Routenplanung führte uns durch den Wald der Macchia di Migliarino, der sich als richtige Sandpiste mit Ostsee-Qualitäten entpuppte. Ein Vorankommen war schwer möglich, aber umkehren ging auch nicht. Da mussten wir einfach durchbeißen.
Danach rollten wir durchs Flachland auf Pisa zu. Es war ein seltsames Gefühl: Man schaut auf die Karte und weiß, die Stadt ist gleich da, aber man sieht einfach nichts. Man fährt die Via Pietrasantina entlang, immer noch nichts. Und dann, nach einem kleinen Kreisverkehr, steht man plötzlich vor der Stadtmauer an der Porta Nuova und ist umgeben von schieren Touristenmassen. Wieder so ein Moment: Wir, frisch vom Meer, mit sandigen, verdreckten Rädern, tauchten ein in dieses Gewusel. Natürlich haben wir das obligatorische Foto vor dem Schiefen Turm geschossen und auf der Wiese ein Picknick gemacht, aber die Hektik und die fast unzufriedene Stimmung vieler “Abhak-Touristen” trieb uns bald weiter.
Man hatte uns empfohlen: “Pisa kann man machen, aber Lucca muss man sehen!” Und das stimmte. Lucca war tatsächlich sehr, sehr schön. Wir machten eine ausgedehnte Pause, schlenderten durch die Gassen und waren ein bisschen shoppen. Allerdings fühlten wir uns in unseren Radklamotten zwischen den schick gekleideten Italiener:innen auch etwas “underdressed”. Wir haben also nur mal kurz in die Stadt hineingeschnuppert und uns eine tiefere Erkundung für ein anderes Mal aufgehoben.
Der weitere Weg durch die Ebene war entspanntes Radeln, bis wir Pieve a Nievole erreichten. Hier wartete eine Überraschung, die ich nicht mehr auf dem Schirm hatte: ein letzter, fieser Anstieg zum Campingplatz. Wir haben beide ganz schön gekeucht, als wir uns die Rampe hochkämpften! Oben angekommen, wurden wir jedoch herzlich empfangen. Auf meinen Standard-Spruch, ob Platz für ein Zelt sei, meinte der Besitzer nur lachend: “Ja klar, sucht euch was aus! Mit dem Rad hier hoch, super! Das war ja auch schon mal eine Etappe beim Giro d’Italia.” Oha! Wir standen also auf der Via dei Tinelli, einer echten Giro-Rampe.
Der Campingplatz Belsito selbst war dann die Belohnung: Von unserem Stellplatz aus hatten wir den ersten, überwältigenden Blick über die Hügel der Toskana. Ein weiteres “erstes Mal” in unserem Leben und ein absolut fantastischer Abschluss für diesen ereignisreichen Tag.
Etappe 19: Von Montecatini Terme nach Lago di Suviana
Fakten-Box:
- Datum: 06. Juni 2023
- Strecke: Montecatini Terme → Pistoia → Passo degli Acquiputoli → Lago di Suviana
- Distanz: ca. 63 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 1.200 m
An diesem Morgen war klar: Heute stand der letzte Pass dieses Urlaubs an. Doch schon auf der Abfahrt vom Campingplatz gab es ein hässliches Knacken in Tabeas Hinterradnabe. Ich konnte den Fehler nicht finden, aber es klang alles andere als gesund. Wir mussten eine Werkstatt finden. Der nächste Radladen auf der Karte war in Pistoia.
Wir rollten also gemächlich in die Stadt, im Kopf die Sorge um das Rad und den anstehenden Berg. In einem kleinen Laden in der Via Giovanni Battista Venturi begann das große Gestikulieren: wir kein Italienisch, die Mechaniker kein Englisch. Ich baute das Rad aus, zeigte auf die Nabe, drehte die Achse — und es knackte. Der Mechaniker sagte nur “Ah, okay”, nahm das Ritzelpaket ab und fand sofort den Fehler: Eine einzige Kugel im Lager hatte einen Grat bekommen. Er reparierte es, und auf meine Frage, was es kostet, winkte er nur ab: “Kein Problem.” Wir waren baff von dieser unglaublichen Herzlichkeit, gaben etwas in die Kaffeekasse und konnten mit einem voll funktionsfähigen Rad unsere Reise fortsetzen.
Die Erleichterung war riesig! In Montale trafen wir auf den EuroVelo 7 und feierten die gelungene Reparatur mit einem Eis. Direkt am Einstieg zum Pass gibt es eine Eisdiele, die zur absoluten Empfehlung wurde. Mit Blick auf die Berge, die vor uns lagen, genossen wir die Pause. Schon der Anstieg nach Tobbiana ist ein ordentlicher Stich, und kurz davor fing es an zu regnen. Einen Pass im Regen hochfahren? Nein danke, so eilig hatten wir es nicht. Wir fanden Zuflucht in einem Restaurant, wo extra für uns Tische zusammengerückt wurden, um Platz für die Räder zu schaffen. Während wir aßen, kam noch ein Schweizer Radler dazu, der allein von Süden nach Norden unterwegs war. Wir fachsimpelten eine Weile — eine schöne Begegnung.
Als der Regen nachließ, stiegen wir in den eigentlichen Pass ein. Die Rennradler, die uns entgegenkamen und mit einem “Daumen hoch” zuriefen, “ist bald geschafft”, hatten recht — und auch nicht. Die Kehren hinter Tobbiana haben es mit kurzen, fiesen Rampen von 15-17 % in sich. Aber es machte einen unglaublichen Spaß, sich dort hochzuschrauben. Und dann kam der Moment des puren Radler-Glücks: Der Regen hörte komplett auf, die Sonne kam raus und die nasse Straße begann zu dampfen. Was will man mehr?
Oben im Wald erreichten wir endlich den Passo degli Acquiputoli. Ein wunderbares Gefühl! Unser Picknick machten wir kurz danach an einer herrlichen Aussichtsbank beim (geschlossenen) Rifugio Cascina di Spedaletto. Es war der schönste Picknickplatz der ganzen Tour: Man sitzt dort wie auf einem Balkon und schaut über die gesamte Ebene der Toskana. Sehr besonders.
Die Weiterfahrt durch den Apennin war grandios. Am Abend erreichten wir unser geplantes Ziel, den Bar Pineta Camping del Lago am Lago di Suviana. Der Platz hatte gerade erst die Saison eröffnet, und wir waren zwei von vielleicht fünf Gästen. Die Küche hatte aber schon auf, und weil das Essen nach diesem Aufstieg so unglaublich gut schmeckte, gönnten wir uns einfach jeder zwei Portionen. Das hatten wir uns definitiv verdient.
Etappe 20: Von Lago di Suviana nach Gaggio Montano
Fakten-Box:
- Datum: 07. Juni 2023
- Strecke: Lago di Suviana → Vergato → Gaggio Montano
- Distanz: ca. 37 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 850 m
Ursprünglich sollte dies der Tag sein, an dem wir nach Bologna rollen, um dort noch viel Zeit für die Stadt zu haben. Wir brachen auf und rollten langsam in Richtung Ebene, vorbei am märchenhaften Schloss Rocchetta Mattei, einer fantasievollen Schöpfung des Grafen Cesare Mattei aus dem 19. Jahrhundert, einem autodidaktischen Heiler und Begründer der “Elektrohomöopathie”. Er baute dieses Schloss als Hauptsitz seines medizinischen Imperiums, ein wilder Mix aus maurischen, mittelalterlichen und Jugendstil-Elementen, wie ein Traum aus Tausendundeiner Nacht mitten im Apennin. Während unserer Mittagspause in Vergato wurden beide plötzlich richtig wehmütig. Uns wurde klar: Wir verlassen gerade diesen wunderschönen Landstrich, die wilde Natur. Die Lust, jetzt schon in eine Großstadt zu fahren, war wie verflogen.
Doch ich hatte für genau so einen Moment noch ein kleines As in der Hinterhand: einen Campingplatz, der mir bei der Recherche ins Auge gefallen war. Und so saßen wir etwas traurig in Vergato, als ich Tabea vorschlug: “Komm, wir hängen noch eine Nacht dran und fahren zu diesem Campingplatz, dem Ca’ le Scope.” Die Laune besserte sich sofort!
Was ich nicht auf dem Schirm hatte, war diese fiese kleine Rampe, die von Salvaro aus auf den Berg führt. Wir mussten ganz schön kurbeln und keuchen, um da hochzukommen! Oben wurden wir aber von der herrlichen Bergregion des Parco Storico di Monte Sole für die Mühen entschädigt.
Der Campingplatz Ca’ le Scope entpuppte sich als absoluter Volltreffer und wurde auf der Stelle zu unserem Lieblingsplatz. Es ist ein Naturisten-Campingplatz (Kleidung ist optional), und die beiden Betreiber sind so unglaublich herzliche Menschen, die unsere Begeisterung für Natur und Camping teilen. Es war eine ganz besondere Begegnung. Wir durften am Nachmittag noch an einer Weinprobe mit regionaler Wurst teilnehmen, wurden fantastisch bekocht und verbrachten den Abend mit einem netten Schweizer Pärchen. Es war das komplette Paket an italienischer Fröhlichkeit und Lebensfreude — und so viel besser, als sofort in die große Stadt zu hetzen.
Etappe 21: Von Gaggio Montano nach Bologna
Fakten-Box:
- Datum: 08. Juni 2023
- Strecke: Gaggio Montano → Sasso Marconi → Bologna
- Distanz: ca. 56 km
- Höhenmeter bergauf: ca. 300 m
Auch die schönste Radtour geht einmal zu Ende. Wir begannen diesen letzten Tag ganz ohne Eile, mit einem ausgiebigen Frühstück auf dem Campingplatz — wir hatten ja alle Zeit der Welt. Danach folgte eine letzte, rasante Abfahrt hinunter ins Tal des Reno.
Unsere Tour führte uns durch Sasso Marconi, den Ort, der nach dem Erfinder Guglielmo Marconi benannt ist. Überall erinnerten kleine Hinweisschilder an den Pionier der drahtlosen Telegrafie, der hier seine ersten, weltverändernden Experimente durchführte. Auf einem feinen, kleinen Radweg rollten wir weiter in Richtung Bologna, ließen das berühmte Santuario di Madonna di San Luca rechts auf seinem Hügel liegen und ließen uns einfach in die Stadt treiben.
Die Einfahrt nach Bologna war dann nochmal ein echtes Highlight! Der Radweg auf der Ringstraße, der Viale Carlo Pepoli, verläuft auf dem begrünten Mittelstreifen. Es fährt sich einfach wunderbar und sicher mitten im Verkehr auf dieser grünen Insel in die Stadt hinein — ein unglaublich herzliches Willkommen für Radreisende.
Das Abschlussbild unserer Tour musste natürlich am Bahnhof Bologna Centrale entstehen. Bis hierher war die Reise geplant, von hier sollte es mit dem Zug zurückgehen. Wir stellten unsere Räder vor dem großen Bahnhofsgebäude auf und schossen ein letztes, stolzes Foto.
Für die letzte Nacht entschieden wir uns gegen das Zelt und für eine kleine Airbnb-Wohnung mitten in der Stadt. Es war ein lustiges Gefühl, nach all den Nächten in der Natur plötzlich wieder mitten im städtischen Leben zu sein. Am Abend machten wir noch einen Abstecher durch die Gassen und genossen das herrliche Flair. Bologna ist eine wunderbar fröhliche, bunte Stadt mit so vielen unterschiedlichen Leuten — ein perfekter Ort, um diese unvergessliche Reise ausklingen zu lassen.
Epilog: Die Rückfahrt
Freitag, 09. Juni 2023
Nach einem sehr frühen und wunderbar unkomplizierten Frühstück — wir mussten mit dem Fahrstuhl zwei Etagen nach unten in eine andere Wohnung fahren, wo es serviert wurde — ging es zügig zum Bahnhof. Lektion gelernt: In Italien sollte man pünktlich am Zug sein, denn manchmal fährt er auch fünf Minuten früher ab!
Die Rückreise war ein kleines Abenteuer für sich: Bologna nach Mailand, umsteigen. Mailand nach München, umsteigen. München nach Leipzig, umsteigen. Und in Leipzig dann der Klassiker: Der ICE hatte kein Fahrradabteil, also mussten wir wieder den Zug tauschen. Das gehört zum Bahnreisen mit dem Rad eben dazu.
Als wir schließlich am Neustädter Bahnhof ausstiegen und wieder auf unseren Rädern saßen, war es wie im Titel des GPX-Tracks für diese letzte kleine Etappe: “Nu schnell und beschwingt nach Heeme”. Nach einer grandiosen Alpenüberquerung, die uns bis ans Mittelmeer und durch den Apennin geführt hatte, landeten wir wieder glücklich, zufrieden und um unzählige Erfahrungen reicher in Dresden-Laubegast.
Fazit: Ein Plan, der aufging
Was bleibt, sind die Erinnerungen an das Gefühl, die Alpen überquert zu haben, die unglaubliche Natur im Val Mora, das erste Bad im Meer, der Stolz, den Apennin befahren zu haben. Der schwere, süße Jasminduft, der überall hing. Und so viele andere Eindrücke, die uns für immer zu Italien-Fans machen. Unsere Bergliebe ist definitiv gewachsen.
Die Statistik zur Tour kommt aus dem #forumslader, meinem Lieblingsgadget. Er sorgte nicht nur dafür, dass ich fast jeden Abend mit vollem Handyakku am Zeltplatz einrollte, er ist ja auch ein veritabler Fahrradcomputer, der mittels barometrischer Höhenmessung deutlich genauere Werte liefert als GPS. Also, von Haustür zu Haustür ergeben sich folgende Werte:
- Gesamtstrecke: 1352,4 km
- Fahrzeit: 94h 41'
- Höhenmeter: 12659 m
- Durchschnitt: 14,1 km/h
- Max. Geschwindigkeit: 58 km/h
- Max. Höhe: 2229 m
- Temperaturen: 4,5°C bis 35,5°C
Etappenübersicht
| Tag | Von | Nach | km | Unterkunft |
|---|---|---|---|---|
| 1 | Augsburg | Lechbruck am See | 104 km | Via Claudia Camping |
| 2 | Lechbruck am See | Biberwier | 43 km | Camping Biberwier |
| 3 | Biberwier | Prutz | 62 km | Aktiv-Camping Prutz |
| 4 | Prutz | St. Valentin a.d. Haide | 48 km | Campingplatz zum See |
| 5 | St. Valentin a.d. Haide | Alp Mora | 41 km | Zelt (wild) |
| 6 | Alp Mora | Bormio | 27 km | Hotel San Vitale |
| 7 | Bormio | Colico | 110 km | Camping Lido di Colico |
| 8 | Colico | Oggiono LC | 40 km | Campeggio 4 Stagioni |
| 9 | Oggiono LC | Mailand | 56 km | Camping Village Città di Milano |
| 10 | Mailand | Tortona | 88 km | Zelt (wild) |
| 11 | Tortona | Montoggio | 63 km | Camping CASTELLO DEI FIESCHI |
| 12 | Montoggio | Lavagna | 46 km | Camping La Pineta |
| 13 | Lavagna | Portofino & zurück | 49 km | Camping La Pineta |
| 14 | Lavagna | Levanto | 46 km | Camping Acqua Dolce |
| 15 | Levanto | Cinque Terre (Tagesausflug) | 0 km | Camping Acqua Dolce |
| 16 | Levanto | Tellaro | 42 km | Campeggio Gianna |
| 17 | Tellaro | Viareggio | 60 km | Camping Viareggio |
| 18 | Viareggio | Montecatini Terme | 71 km | Camping Belsito |
| 19 | Montecatini Terme | Lago di Suviana | 63 km | Camping Suviana |
| 20 | Lago di Suviana | Gaggio Montano | 37 km | Camping Ca’ le Scope |
| 21 | Gaggio Montano | Bologna | 56 km | Hotel |
Service: Links & Ressourcen zur Tour
Allgemeine Routen-Informationen
- Via Claudia Augusta - Die offizielle Webseite für den ersten Teil der Tour.
- Bicitalia - Ciclovia Francigena (BI 3) – Informationen zur anspruchsvollen Apennin-Variante.
- Appennino Bike Tour – Das übergeordnete Radwegenetz
- EuroVelo 5 – Via Romea (Francigena) – Offizielle Seite des EV5 in der Toskana.
- EuroVelo 7 – Sonnen-Route (Ciclovia del Sole) – Offizielle Seite des EV7
Besuchte Radwege
- Sentiero Valtellina – Der Genussradweg von Bormio zum Comer See.
- Ciclovia dei Laghi di Garlate e Olginate - Der Radweg, der Lecco mit dem Lago di Annone verbindet.
- Ciclovia del Naviglio Pavese – Der schnurgerade Radweg von Mailand nach Pavia.
- Greenway Voghera-Varzi
- Ciclovia dell’Ardesia – Der “Schiefer-Radweg” von Lavagna ins Landesinnere.
- Pista Ciclopedonale Maremonti – Der geniale Radweg auf der alten Bahntrasse zwischen Levanto und Framura.
Pässe & Anstiege
- Fernpass – Westrampe von Biberwier (Schottervariante).
- Reschenpass / Norbertshöhe – Die schönere Auffahrt von Martina.
- Döss Radond - Der Übergang ins Val Mora (Teil der Nationalpark Bike-Marathon-Route).
- Passo de Castagnola - Der “unbemerkte” Pass im Apennin hinter Voltaggio.
- Passo la Colla - Der einsame Pass auf dem Weg von Montoggio ans Meer.
- Passo del Bracco – Der Küstenklassiker in Ligurien.
- Colla di Gritta - Der Pass auf der Panoramastraße hoch über der Cinque Terre.
- Passo degli Acquiputoli – Der steile Übergang in die Emilia-Romagna.
Regionen und Tourismus
- Val Müstair – Offizielle Tourismusseite des Schweizer Tals.
- Valtellina (Veltlin) – Tourismusportal für die Region zwischen Bormio und Comer See.
- Nationalpark Cinque Terre – Offizielle Seite des Nationalparks.
- Bologna Welcome – Das offizielle Tourismusportal für Bologna.
Kulturelle Highlights & Spezifische Orte
- UNESCO Welterbe Kloster St. Johann, Müstair
- Villa Ghirlanda Silva
- Autodromo di Monza
- Königliche Villa von Monza
- Ponte Coperto (Pavia) - Das historische Wahrzeichen von Pavia.
- Area Archeologica di Libarna
- Archäologische Stätte von Luni – Der antike Marmor-Hafen.
- Macchia di Migliarino
- Rocchetta Mattei – Das Märchenschloss im Apennin.
Besuchte Campingplätze und Unterkünfte
- Via Claudia Camping (Lechbruck)
- Camping Biberwier
- Aktiv-Camping Prutz
- Camping zum See (St. Valentin)
- Hotel San Vitale
- Lido di Colico (Comer See)
- Camping La Pineta (Lavagna)
- Camping Acqua Dolce (Levanto / Cinque Terre)
- Camping Viareggio
- Camping Belsito (Montecatini Terme)
- Camping Ca’ le Scope (Gaggio Montano)
Hinweis
P.S. Für die Nerds & Bibliophilen
Dieser Text ist das Ergebnis einer Mensch-Maschine-Kollaboration. Während ich die Kilometer gefressen, die Pizza gegessen und im Zelt geschlafen habe, hat mein persönlicher “Reise-Chronist” im Hintergrund den digitalen Brotkrumen der GPX-Tracks eine Dramaturgie entlockt, in Archiven nach den Namen vergessener Pässe gegraben und die Wegweiser für die digitale Welt (die Links) gesetzt.
Kurz gesagt: Die Anekdoten sind meine, die Archive hat er durchforstet.